Peter Voss und Ian Kershaw - oder: Das deutsche Volk und die Nazis

Wieviele Worte sind da schon verloren worden, wie viele Gedanken gedacht, wie viele Bücher geschrieben worden, um diese Frage zu ergründen: Wie war das alles möglich? Und dann noch bis zur letzten Minute, bis zur letzen Patrone, bis zum letzten Mann?

Ian Kershaw, ein kenntnisreicher, sehr verdienstvoller britischer Historiker, hat für mich und viele andere Deutsche, die keine unmittelbaren, keine aktiven Zeitzeugen waren, ganz viel zum besseren Verstehen der damaligen Zeit beigetragen, hat Hintergründe durchleuchtet, hat Licht ins Dunkel gebracht - wo nur Verkleisterung (bei den Einen) oder Verherrlichung (bei den Anderen) herrschte… und Nicht-wissen-wollen bei viel zu vielen vormaligen Volksgenossen.

Peter Voss, vormaliger Intendant des SWR,  hat diesen bemerkenswerten Menschen zum Interview gebeten - das versprach, aufschlußreich zu werden. Wurde es auch, aber auf andere Art und Weise.

Was hat der gute Peter Voss sich da nur erlaubt  - abgesehen davon, daß er zuviel geredet hat? Mit aller Gewalt wollte er bestätigt haben, daß es eben "typisch deutsch" sei (für das gewöhnliche deutsche Volk!), bis zum letzten Atemzug zu kämpfen, fanatisch bis zur letzten Patrone, dem "Führer" immer noch mehr oder weniger treu ergeben?! Was war ich beruhigt, daß keiner der beiden auf 30.000 Todesurteile zu sprechen kam, 20.000 davon vollstreckt, auf die gefürchteten Kettenhunde, auf all die Ortsgruppenleiter, die auch 5 vor 12 noch Leute haben aufknüpfen lassen, bevor sie sich selbst in Sicherheit gebracht haben. Erfreut auch, daß keine Rede davon war, wie die Nazis noch in den letzten Tagen ihre Gestapokeller geleert haben, wie im Dortmunder Rombergspark; ebenso auch Thälmann, der kurz vor Schluß umgebracht wurde. Nein, lieber Peter Voss, es waren die Herrschenden unter den Nazis und ihren willfährigen ausführenden Organen, die auch all diese Verbrechen begangen, zugelassen oder verlangt haben. "Typisch deutsch" - oder doch eher typisch für die Herrschenden, die ihr eigenes Ende hinauszögern oder sich selbst unsichtbar machen wollen?

Ansonsten: danke, daß es diese Gespräch gegeben hat.

Peter Voß fragt Ian Kershaw:
http://programm.ard.de/TV/3sat/2011/11/28/peter-voss-fragt-ian-kershaw/eid_280077063640032?monat=&jahr=&list=main&archiv=1#top

Es bleibt bei mir allerdings auch das Staunen darüber, daß Ian Kershaw dieses Bemühen von Peter Voss so klaglos über sich ergehen ließ. Doch auch ein weiterer Bericht wirft ein seltsames Licht auf die heutigen Formen des Berichtens, des Interpretierens und der Überschriften-Gestaltung:

“Das Grundmuster des Verhaltens der Zivilbevölkerung war Passivität” - Hermann Ploppa - Telepolis vom 17.12.2011:
“Der englische Historiker und Hitler-Biograph Ian Kershaw und die Frage, warum die Maschinerie des Dritten Reiches bis zur totalen Auflösung weiter funktionieren konnte.”
http://www.heise.de/tp/artikel/36/36072/1.html

Ein nüchterner Bericht, der die ganze Brutalität der Nazi-Größen bis unmittelbar vor Toresschluß deutlich macht - um dann doch die "Passivität" der Deutschen kommentarlos abzufeiern. Es soll wohl bis auf den heutigen Tag immer wieder darauf hinauslaufen, daß “der gewöhnliche Deutsche” allein Schuld an dem ganz NS-Schlamassel gehabt hat: der deutsche Michel, der nur zum befohlenen Marschieren zu gebrauchen ist...

Herr im Historikerhimmel - laß Hirn regnen!