"Da sind dem liberalen Peter Henkel die Gäule aber arg durchgegangen. Und er bringt durcheinander, was sauber getrennt sein sollte. Um was geht es? Leben wir in einem religiösen oder religiös geprägten, so definierten oder zumindest von seinen Bürgern so
gewünschten Staat? Die Weimarer Reichsverfassung wollte schon eine klare Trennung von Kirche und Staat - und das GG hat das übernommen. Es ist gewiß nicht zu übersehen, daß das zu guten Teilen nur Postulate sind, die immer wieder von der herrschenden Politik in Verbindung mit den Kirchen und anderen gesellschaftlichen Kräften unterlaufen werden. Nur, das schreibt die Verfassung nicht um. Auch wenn die CDU Adenauers schon ab Gründung der Bundesrepublik alles getan hat, den Kirchen Vorrechte
zuzuschanzen, die ihnen nicht zustehen. Gegen den Widerstand der SPD, die, scheint mir, davon heute lieber nichts mehr wissen will.
Was aber bedeutet das dann? Unsere Verfassungs-Gründungsväter und -Mütter wollten damit im Wesentlichen den Frieden in Staat, Gesellschaft und Familie sichern. Religion wie religiöse Betätigung oder Nichtbetätigung sollten Privatsache werden, eigenverantwortliche Privatsache eines jeden Bürgers. Niemand sollte mehr Vorschriften machen können - und niemand
unter solchen Vorschriften leiden. Das war ja immerhin mehr als 1000 Jahre der Fall gewesen. Die allumfassende Herrschaft der Kirchen / des Christentums in unseren europäischen Breiten ließ "die Religion" nicht gerade zu einem Ruhmesblatt der Geschichte, des Humanismus oder der menschlichen Entwicklung werden: das Gegenteil sollte der Fall sein. Es hat unendlich viel Blut, Schweiß und Tränen gefordert, diese Phase unserer Entwicklung zu überwinden. Und mit der
Schaffung der neuen Ordnung 1918 wie 1949 sollten daraus institutionalisierte Lehren für die Praxis gezogen werden. Wie sah denn die Lebenspraxis nach dem Krieg aus? Konfessionsschulen für das Volk (in den Volksschulen), saubere Trennung schon der Kinder, dann sog. "Christliche Gemeinschaftsschulen" - obwohl es schon damals viele Atheisten, Kirchenferne und Kirchenfremde gab, konfessionelle "Misch-Ehen" mit Problemen bei Heirat und Taufe, konfessionell
getrennte Kindergärten bis auf den heutigen Tag usw. usw. Alles nur, weil "man" die Menschen unter keinen Umständen selbst entscheiden lassen wollte, nach welcher Fasson sie selig werden wollten. Trotz Friedrich II. und Französischer Revolution. Bei der Diskussion über den heutigen Islam geht es unter verständigen Menschen ja gar nicht darum, den Islam "zu verteufeln" - wenn der "irgendwo" stattfindet; wenngleich es wohl zulässig ist, sich als weltoffene
Menschen darüber Gedanken zu machen, wie Religion (Islam, Hinduismus, Christentum - völlig gleich) von fehlgeleiteten Interpretatoren zum Kampfinstrument gebogen wird, das zur Unterdrückung "der anderen" geschmiedet wird. Das aber ist doch der alles entscheidende Punkt: Religion wird immer wieder zum Faustkeil, der das Faustrecht seiner Inhaber eindrucksvoll unterstreicht - wo aber bleiben all die vielen ethischen und humanistischen Ideale all dieser schönen großen Religionen? In
der Praxis des täglichen Lebens? Gemartert, gequält, getötet, unterdrückt, gebrandschatzt wird durch konkrete Menschen; es wäre dumm, ja kurzsichtig, leichtfertig, die Taten von den Denkgebäuden zu trennen. Und die Religionen - immer wieder - zu exkulpieren. Und was für die Religionen - als Denkgebäude - gilt, gilt ebenso für die Götter, die darüber thronen... in deren Namen da gehandelt wird. Da fällt die Schlußfolgerung doch leicht - das Abschwören von den innigen Verbindungen
von Religion, Staat und Gesellschaft! Wegen der Freiheit der Menschen. Und nur um die Menschen kann es gehen. Religionen haben noch nie "Freiheit" gebracht, haben noch keine Gesellschaft zu mehr Humanität weiter entwickelt - aber haben wohl immer wieder nachträglich gewaltige Hilfen benötigt, wimmernde Erklärungen zu liefern, warum das alles so war und ist: aber selbstverständlich werden Art und Umfang der Drangsalierungen mit schöner Regelmäßigkeit bestritten, zumindest soweit der
eigene Beritt betroffen ist. Peter Henkel sollte sich also mal besser keine Gedanken darüber machen, ob sich "die bundesdeutsche Gesellschaft mit der Verdrängung religiöser Themen einen Gefallen tut", gar daß kein Atheist und kein Agnostiker das bezweifeln dürften. Das Kopftuch der Islamisten ist eben nicht nur ein Kopftuch - es ist ein Morgenstern in der Hand seiner Nutzer. Wer wirklich tolerant ist, und das nicht nur predigen will (die Kirchen sind seit Jahrzehnten
leer), der muß erkennen, daß Religion nur Privatsache sein kann - wenn wir alle wollen, daß die Menschen sich gegenseitig tolerieren. Und dann muß ich eben mich dem anderen gegenüber nicht in irgendeinem Sinne "bekennen", also missionieren, sondern ich kann mit mir, meiner Religion, ihren Lehren und Göttern - und meinen Mitmenschen - in Frieden leben. Das gilt auch für den "Fall Ludin": will sie unbehelligt leben, dann ist sie bei uns richtig. Und richtet sich nach unseren
Maßstäben. Ist ihr das Kopftuch unabdingbares Teil ihres Seins, dann weiß sie ja, wo sie das ungestört tragen darf." 19.7.98 |