“Vorab:

Ich schätze Sie sehr als eigenständigen Denker, der eine bedeutende Rolle in der deutschen Gegenwartsgeschichte spielt. Sie haben wiederholt klug und abwägend, auch mahnend und warnend Ihre Stimme erhoben. Für mich sind Sie ein Stück Gewissen geworden, ein notwendiges, über das ich sehr froh bin.

Jetzt aber haben Sie, was eben dieses Ihr eigenes Wirken angeht, ein verblüffendes, weil weitestgehend negatives, Fazit gezogen. Ich bin überrascht und bekümmert - und muß widersprechen. Und stimme Avi Primor zu.

Aber ich muß auch fragen.

Wie sehen Sie die bundesdeutsche Welt, die sich bekanntlich schon seit 50 Jahren als "deutsche" Welt, ohne rechts oder links geblickt zu haben, aufführt, fühlt, strapaziert wird? Wie sind die Maßstäbe dafür? Ihre Maßstäbe, die der schreibenden Zunft, der Intellektuellen - meine Maßstäbe? Gewiß, da gibt es wohl erhebliche Unterschiede, ganz unterschiedliche Fragestellungen (bei manchen: wenn überhaupt) - und dementsprechend ganz unterschiedliche Wahrnehmungen und Ergebnisse.

Was meine ich damit konkret?

Alles hängt bekanntlich mit allem zusammen - oder: blicken wir auf unsere Geschichte. Nein, erst ein Blick ins Wirkliche. Wer ist wer? In Deutschland? Sie, ich? Wir sind beide Deutsche; das ist Fakt. Mit unterschiedlichen verwandtschaftlichen Herkünften, gewiß. Und das heißt für mich, daß ich Sie als jüdischen Deutschen verstehe, wie fast alle auch, die vor uns in diesem unserem Heimat-(oder: Vater-?)land gelebt haben. Die Juden in Deutschland, wenn wir einmal hundert Jahre zurück blicken, waren nahezu ausschließlich zunächst einmal Deutsche, dann aber eben auch Juden nach Religion, weniger nach Rasse oder Herkunft,  waren Kaufleute, Denker. Nicht wegzudenkende Bestandteile (darf ich das so nüchtern sagen?) des gesamten deutschen Volkes, der Menschen eben, wie sie hier leibten und lebten. Zweifellos immer wieder verfolgt und verunglimpft. Aber von wem? Und vor allem warum? Seit wann?

Seit wann gibt es Judenverfolgungen? Seit es Christen gibt, also schon im alten Rom, lange, bevor das Christentum Staatsreligion wurde. Religiöser Haß, religiöser Neid, religiös motivierte Hetze und Volksverhetzungen - eine rote Blutspur, die sich durch das Abendland zog; so wie später dann die Ketzerverfolgungen, die Hexenverbrennungen, die Jagd auf Atheisten und Abweichler.

Kirche(n) und Besitzende, gewiß auch aufgehetzter und neidischer Pöbel, vergriffen sich immer wieder an den Juden ihrer Gesellschaften: selbst dann, wenn das Judentum mit Gewalt "hervordefiniert" werden mußte. Religiöser Haß und ebensolche Motivation sitzen tief. Und haben einen langen Atem.

Mit anderen Worten: Judenverfolgung ist nichts typisch Deutsches - aber es ist untrennbar mit der christlichen Religion und den Kirchen verbunden - dagegen kaum mit den islamischen Ländern (bis vor ein paar Jahrzehnten). Man respektierte dort die Söhne des Buches.

Zurück zu Deutschland.

Die Weimarer Zeit brachte etwas ins Leben zurück, was man eigentlich überwunden glauben durfte: die Hetze gegen Juden. Aber wer hetzte? Gegen welche Juden? Warum?

Es waren zweifellos nicht die Arbeiter, die Sozialdemokraten, Kommunisten, Gewerkschaftler, die etwas gegen "die" Juden gehabt hätten - viele ihrer herausragenden Köpfe, Vordenker und Vorkämpfer waren ja jüdische Deutsche; sie hatten auch deshalb keinen Grund, gegen "die" Juden eingestellt zu sein, weil sie als Atheisten auch nicht mehr den religiösen Bazillus in sich trugen. Und bei ihnen konnte auch das Völkisch-rassische keine Rolle spielen, waren sie selbst doch in der gesamten Kaiserzeit (und zuvor!) politisch verfolgt und verunglimpft worden.

Wer aber hetzte? "Das" Bürgertum in Teilen, Neider im wirtschaftlichen Bereich (eine sehr alte Quelle!), Neider im beruflichen wie im gesellschaftlichen Bereich, zu kurz gekommene in der bürgerlichen Gesellschaft, deren intellektuelle Potenz gegen die herausragenden jüdischen Deutschen nicht ankam: Neid, immer wieder Neid und Arroganz.

Erst der aufkommende Nazismus des klerikal erzogenen und geprägten Österreichers Hitler schaffte es, dem Antisemitismus wieder Stimme zu geben - und gewiß latent vorhandene Vorbehalte zu einem lauten und gefährlichen Antisemitismus (gerade schon die Morde anfangs der Weimarer Zeit, die vor allem antidemokratisch waren, kündeten eine schreckliche Entwicklung an) zu verstärken, zu bündeln. Erst diese Richtung brachte dann den rassischen Antisemitismus ins Leben. Und das war die neue Gewalt, die neue Richtung.

Nur: wer nahm sie zur Kenntnis? Bis 1930 spielten die Nazis zwar eine laute Rolle, vermochten aber bei den Reichstagswahlen kaum zu imponieren. Selbst nach dem 30. Januar hat noch niemand an den Untergang des Abendlandes geglaubt; auch die jüdischen Deutschen nicht. Trotz aller konkreten Hetze und Taten durch SA, SS  und andere Nazi-Banditen und den schnell umkippenden Staatsapparat. Die Staatsdiener waren keine Demokraten -  die ganze bürgerliche Gesellschaft, die "Eliten" hatten es nicht mit der Demokratie. Und liefen über zu den Nazis - die einen schon vor dem 30. Januar, die anderen später.

Wer also hetzte, war Träger der neuen Qualität des Kampfes gegen die Juden in Deutschland? Ich will gar nicht so weit gehen und alle, die in den Märzwahlen 1933 nicht SPD oder KPD wählten, als (potentielle oder gar wirkliche) Judenverfolger bezeichnen. Nur: der von den Mächtigen in der Gesellschaft goutierte Sieg der Nazis, der bekanntlich auch im Ausland auf keine Vorbehalte stieß, entwickelte einen eigenen Sog in die Nazi-"Volksgemeinschaft". Ich will das nicht weiter nachzeichnen - die Soziologen haben da noch ein reiches Feld der Entdeckungen vor sich. Nachdem sie es 50 Jahre ignoriert haben.

Was aber will ich - um was geht es mir? Ich meine, nur ein kleinerer Teil der (nichtjüdischen) Deutschen ist wirklich schuldig geworden - viele haben ihren Antinazismus mit dem Leben bezahlt. Vor allem, wenn sie von links kamen, Arbeiterschaft wie Intellektuelle, die "einfachen" Leute.

Und das ist der Punkt - mein Punkt. Auch hier gab es Täter und Opfer, wie es ein Oben und ein Unten gab. Und gibt. Die "oben" haben bestimmt und befohlen, haben Laufbahnen beendet, Menschen verfolgt und getötet, Gestellungsbefehle ausgestellt und vollzogen, Karrieren gemacht - und "die anderen" auf den Kasernenhof geschickt, an die Front, in den Untergang. Und "zersetzende" Äußerungen wie Taten tödlichst verfolgt. Auch die 30.000 Standgerichtsurteile sprechen eine deutliche Sprache.

Warum schreibe ich das - warum widerspreche ich Ihnen?

Meine Eltern und Großeltern (ich bin Jahrgang 1937), Dortmunder, Arbeiter, Atheisten, Sozialdemokraten, Gewerkschaftler, waren vom ersten Tag der aufkommenden Nazis an (also lange vor dem 30. Januar) gegen die Nazis, mein Vater, mein Onkel und mein Großvater (und viele andere aus unserem Umfeld) mußten sich mit der SA prügeln, weil sie immer wieder überfallen wurden; Demonstrationen mußten von der (preußischen) Polizei gegen die SA geschützt werden. Und bei der Hausdurchsuchung nach dem 30. Januar saßen die SA-Leute auf der Parteifahne, die meine Großmutter in ein Stuhlkissen eingenäht hatte. Mein Großvater war ein wirklicher Sturkopf, der erst kurz vor Toresschluß eine winzige Nazipapierfahne ins Fenster des Eigenheimes stellte (es war das einzige Haus in der ganzen Straße, das unbeflaggt war), nachdem ihm inoffiziell eine ganz, ganz dringliche Warnung zugegangen war.

Mein Vater und ein Onkel sind im Krieg geblieben (wie auch schon meine beiden leiblichen Großväter 1914 auf dem "Feld der Ehre" geblieben waren - ohne Kriegsfreiwillige gewesen zu sein!) und wir, die Überlebenden, waren froh, als der ganze Spuk vorbei war. Und die Angst vor den Nazis (und nicht nur vor den Bombern).

Was will ich damit sagen - was ist der Sinn der ganzen Rede? Meine Leute waren zum einen keine Nazis, haben nie etwas gegen Juden gehabt, aber teuer für die Nazis bezahlt; unser Vorort Dorstfeld hieß Juden-Dorstfeld, weil es so viele jüdische Mitbürger gab, mit denen man ganz selbstverständlich zusammen lebte: kleine Handwerker und Ladenbesitzer, ganz normale Leute, die jeder kannte - und gegen die niemand etwas hatte. Warum denn auch?!

Mir kommt es darauf an, daß endlich differenziert wird, daß der Unterschied zwischen Tätern und Nichttätern (manche davon waren Opfer) gemacht wird, zwischen Befehlshabern und Befehlsempfängern, zwischen Generälen und Schütze Arsch, zwischen Richtern und Angeklagten, Wärtern und Gefangenen, Wehrwirtschaftsführern und Arbeitern, die Gefangenen 'was Eßbares zugesteckt haben - unter Gefahr für das eigene Leben. Und daß unterschieden wird zwischen denen, die als furchtbare Richter usw. andere ganz bedenkenlos auf's Schafott geschickt haben. Und selbstverständlich dafür nie zur Verantwortung gezogen worden sind.

Was war denn in der Nachkriegszeit? All die vielen Nazis, Nutznießer, Mitläufer, Denunzianten, Täter aller Größenordnungen haben für ihre Taten nicht gebüßt - mußten sich nicht einmal vor einer Wahrheitskommission verantworten: sie wurden ja "gebraucht" im Kampf gegen die "Gefahr von links"; und ganz schnell wurde rehabilitiert, Persilscheine en masse ausgestellt, wieder in Ämter eingesetzt, Besoldungen und Pensionen gezahlt. Der Besitz wie die Karrieren blieb völlig unangetastet. Aber: meine Leute, unsere Leute, sind immer noch tot. Die Leute von Rechts haben ganz schnell wieder Fuß gefaßt - die alten Mächtigen waren auch wieder die neuen Mächtigen. Auf allen Ebenen. Gewiß: die Fahnen, Hymnen und die Parteibücher wurden ausgetauscht. Dieses Pack hielt zusammen.

Und jetzt? Eine linke Schickeria geht seit Jahren hin, und macht nachträglich alle Deutschen der tausend Jahre zu Nazis, zu Kriegstreibern und bereitwilligen Judenkillern und immerwährenden Siegheilbrüllern. So viele Jahre nach den Nazis stellen linke Besserwisser, Vertreter der schreibenden und überhaupt der journalistischen Zunft und viele Intellektuelle eine (Nazi-)Volksgemeinschaft her, die es unter den Nazis so geschlossen wahrlich nicht gegeben hat. Die Existenz und die Opfer von Antinazis werden geleugnet. Diese Menschen werden so noch einmal hingerichtet.

Da in der Tat stumpft dann auch mancher denkende Deutsche der Jetztzeit ab und will das nicht mehr hören: wenn angeblich alle schuldig waren/sind, dann duckt man sich weg; das ist menschlich. Daß die Täter von damals sich gern verstecken hinter dem Vergessen und den Ablenkungsmanövern, ist nicht verwunderlich; klar ist allerdings auch, daß keinerlei Wiederholungsgefahr für die fürchterlichen Verbrechen besteht. Sie selbst haben sich dazu wiederholt unzweideutig geäußert; dafür danke ich Ihnen.

Mein Fazit - Ihr Fazit? Ich meine, gerade durch Ihr Wirken ist allmählich eine Bewußtwerdung in Deutschland eingetreten; bis auf ein paar Ewiggestrige, Engstirnige oder verlorene Seelen, die es immer und überall gibt, hat kaum noch jemand eine falsche Vorstellung von den Vorgängen der Nazizeit und den Verbrechen; jeder weiß, daß es Verbrechen waren - die größten, die in unserem Lande jemals begangen worden sind; die Schande darüber wird uns immer bleiben. Aber es ist sicher kein Zeichen von Weisheit oder Souveränität, bei jedem umgestürzten Grabstein zu zetern, als würde die SA wieder marschieren: das bestärkt nur das junge Pack, das von den Naziverbrechen nichts weiß und seine Vorurteile auslebt.- Doch wir sollten auch beim notwendigen Blick auf die Anfänge ("Wie war das alles möglich?") nicht übersehen, nicht vergessen, daß es viele Bedingungen waren, die die Nazizeit erst möglich gemacht haben - und daß eben nicht alle Deutschen daran beteiligt waren. Und: daß europaweit niemand sich aufgelehnt hat. Zu keinem Zeitpunkt. Aus keinem Anlaß.

Mein Wunsch - und meine Hoffnung - ist, daß Menschen wie Sie sich wieder als jüdische Deutsche verstehen können, die hier ohne Wenn und Aber zu Hause sind, weil Sie hier hingehören - vielleicht in der nächsten Generation? Und daß der nackte und ausgrenzende Begriff "Juden in Deutschland" als deplaziert und unzutreffend zu einem Begriff aus einer überlebten, ja überwundenen schrecklichen Vergangenheit wird. Ich weiß, Deutschland ist ein mitunter schwieriges Vaterland, aber es ist mein Land, es ist auch Ihr Land. Es ist unser Land.

Sie gehören nach Deutschland genauso wie ich - und zwar in jeder Phase unserer Existenz. Sie haben viel bewirkt. Wir alle brauchen Sie.”

13.8.99

Zu spät.

Ignatz Bubis hat gemeint, er habe nichts bewirkt durch seine Tätigkeit. Es war seine Lebensbilanz - was ich noch nicht erkannt hatte.

Aber ich war nicht seiner Meinung; sein Resümee hat mich tief bekümmert. Ich war und bin fest davon überzeugt, daß Ignatz Bubis viel erreicht hat: er ist zu einer Institution geworden, er wurde wieder einer von uns, würde ich gerne sagen. Wenn es nicht so vermessen wäre, wenn ich mir das anmaßen würde. Er hat jedem Deutschen von heute gezeigt hat, daß die Juden in Deutschland eben doch immer jüdische Deutsche waren und es hoffentlich eines Tages aus eigner Empfindung auch wieder  sind - nicht Fremde von irgendwo. Deutsche, die einfach dazu gehören. Zu unserem Volk, zu unserer Gemeinschaft. Zu unserer Geschichte.

Ich wollte Ignatz Bubis meine Meinung beschreiben. Mein Brief wurde fertig, als mich die Todesnachricht erreichte.