Arisierung für alle? War es so?

“Dieser Aufsatz ist sehr ärgerlich - unterstreicht er doch mal wieder (der Bezug auf Goldhagen war gar nicht erforderlich), daß "die Deutschen" (also alle, oder: fast alle) sich an den Juden bereichert haben, die Juden verfolgt haben, in der großen Zahl eben "was" gegen Juden hatten. Gewissermaßen: "typisch deutsch"? Oder lese ich den Aufsatz verkürzt?

Der Untertitel, sicher von der Redaktion zu verantworten, bringt es doch auf Ihren Tenor: "Die Arisierung machte breite Bevölkerungsschichten zu willigen Komplizen der Judenverfolgung". Eine klare Aussage. In wie weit wird sie aber tatsächlich von Ihren Forschungsergebnissen getragen? Wer hat wieviel profitiert, mit welchem tatsächlichen oder auch formal-kriminellen Aufwand?

"Die einen" (Wirtschaft, Banken, Mittelstand, Nazibonzen und alle Sozialneider des Bürgertums) haben sich in großem Stil bereichert, haben die jüdischen Deutschen ausgebeutet, betrogen, ans Messer geliefert - und haben sich neue Imperien des Reichtums und der wirtschaftlichen Macht aufgebaut. Bei denen blieb vermutlich alles, was wertvoll war (wirtschaftliche Imperien, Firmen, Warenrechte, Häuser, Grundstücke bis zu den Teppichen und Pelzen). Das waren wohl zweifellos die Eliten des NS-Systems (die ja so auch schon vor dem 30. Januar vorhanden waren: als Gegner und Feinde der Republik wie der Juden in Deutschland, aber auch als Gegner oder Feinde der Linken). "Die anderen" (oder: "andere"?) konnten billig Löffel und Geschirr ersteigern oder kaufen, manche nach erfolgter Ausbombung.

Meine Mutter (Jahrgang 1911, wir lebten in einem Dortmunder Vorort) sagte mir, daß es in ihrem Umfeld (Arbeiterschaft) verpönt war, sich an diesen kleinen Hinterlassenschaften der verfolgten jüdischen Deutschen zu vergreifen. An die großen Hinterlassenschaften kamen jedoch diese Deutschen, also das gemeine Volk, überhaupt nicht heran.

Sie malen jedoch immer wieder die Goldhagen-Bilder:

    "so viele gewöhnliche Deutsche" - Absatz 1
    "der deutschen Bevölkerung" - Absatz 2
    "breite Beteiligung der deutschen Gesellschaft" - Absatz 3
    "Millionen von Deutschen" - Absatz 4 (wie viele Millionen eigentlich? Zwei, drei oder sechzig?)

Es ist ja verrückt, wenn Sie sich dazu versteigen zu behaupten,  "daß die Judenverfolgung ... ohne die Mitwirkung, ja die breite Beteiligung der deutschen Gesellschaft nicht möglich gewesen wäre". Was wollen Sie hier eigentlich für ein Bild malen, unter welchen Bedingungen die NS-Barbaren ihre verbrecherischen Taten geplant, in Szene gesetzt und umgesetzt haben? Da scheint ja wirklich der Goldhagen mit Ihnen durchgegangen zu sein.

Das setzt sich so fort. Bis dann auf einmal die Beschreibung etwas differenzierter wird.  Da sind es dann

    "die Rahmenbedingungen durch Verordnungen des Staates und Initiativen der NSDAP"
    "vor allem der Gauwirtschaftsberater"
    "Rechtsanwälte und Makler"
    "vor allem jedoch Banken"
    "Sachverständige der IHK"
    "Konkurrenten der jüdischen Unternehmer"
    "antisemitische Einstellungen in verschiedenen Bereichen der deutschen Gesellschaft ..., vor allem im gewerblichen Mittelstand"
    die "akademischen Eliten".

Und Sie schlußfolgern selbst, daß "sich viele auch deshalb an der Judenverfolgung beteiligten, weil diese ihnen die Möglichkeit gab, Interessen unterschiedlicher Art, vor allem materielle Interessen zu verfolgen". Damit meinen Sie vermutlich nicht die Übernahme von ein paar Löffeln oder Tellern.

Sie erkennen dann ganz richtig, "gerade der mittelständische Antisemitismus von Handwerkern und Einzelhändlern, der sich gegen jüdische Filialunternehmen und Warenhäuser richtete...": zweifellos älter als die NS-Ideologie, alter antisemitischer Bodensatz, in allen christlichen Gesellschaften Europas zu Hause.

Warum strapazieren Sie dann noch den Vulgärmarxismus? Sie werden doch kaum daran zweifeln wollen, daß durch die vielen Jahrhunderte christlich motivierter antisemitischer Verfolgungen in ganz Europa die Bereicherungsabsicht unter den Besitzenden, denen, die die Jäger und Verfolger, die Täter eben, waren, stets eine ganz bevorzugte Rolle gespielt hat? Daß der Pöbel stets auch sein Mütchen gekühlt hat, wenn durch die jeweilige Obrigkeit Pogrom angekündigt war, ist ja hinreichend bekannt. Der Anstoß kam jedoch stets von "oben", von den Mächtigen. Oder nicht?

Es ist Ihren eigenen Darlegungen zweifellos ansatzweise zu entnehmen, wer in welchem Umfang (meßbaren Umfang!) an der Judenverfolgung, durch die Arisierung profitiert hat. Warum dann aber, zum Teufel, nehmen auch Sie (fast) das ganze deutsche Volk in die Mithaftung? Das ist zwar unter unseren intellektuellen Denkern und Schreibern der gesamten Nachkriegszeit der herrschende Tenor: deckt sich aber nicht mit der Wirklichkeit der Nazizeit.

Allerdings hat dieser nachfaschistische Wertekanon zu etwas anderem geführt: Zweifellos haben viele Deutsche sich am 8. Mai nicht befreit gefühlt, wenngleich mancher aufgeatmet hat, daß man von den Nazischergen befreit war (und nicht nur vom Bombenterror). Man war besiegt und lief beschämt, deprimiert, geschlagen und verachtet durch die und in die neue Zeit. Weil man besiegt war als Deutscher, trug man (das Volk, das einfache) auch an den Verbrechen, wie sie dann in ihrem ganzen schrecklichen Umfang bekannt wurden. Alle Deutschen in einem Boot... Doch die Umschreibung der Geschichte erfolgte durch die 68-er: sie schufen mit zwei, drei Jahrzehnten Verspätung die (Nazi-)Volksgemeinschaft, die selbst die Gestapo seinerzeit partout nicht ausmachen konnte. Von Stund an waren alle Deutschen in der Nazizeit, gleich ob Gefreiter oder General, ängstlicher Mitläufer oder Bonze, stiller Ex-Sozi oder Gestapo-Mächtiger, Arbeiter oder Konzernherr, Opfer oder Täter, Ausführender oder Befehlshaber, Empfänger oder Aussteller des Gestellungsbefehls, "Gröfaz"-Spotter oder Träger des goldenen Ochsenauges, Fallbeilaspirant oder Freisler, "unten" oder "oben" gleich schuldig. Gleich schuldig, weil die Deutschen als Ganzes zu einem Volk von zu verachtenden Subjekten umdefiniert wurden.

Viel zu viele Schreiberlinge halten diese Betrachtungsweise täglich am Leben - und dem Goldhagen hat es einen feinen Job eingebracht. Warum aber fallen Sie in einen generalisierenden Tenor ein, der in den Kernpunkten durch Ihre Forschung offenkundig nicht gedeckt ist? Warum machen Sie nicht deutlich, wer woran welchen Anteil hatte? Warum, kurz gefragt, nennen Sie nicht Ross und Reiter? Das kann doch wirklich so schwer nicht sein. Und würde der Wahrheit zur Ehre gereichen.

Es würde auch den vielen Opfern der Nazis, die keine Juden und keine Generale vom 20. Juli waren, aber gegen die Nazis gearbeitet, gekämpft, aufgeklärt und mit ihrem Leben bezahlt haben, mit ihrer Gesundheit, mit ihrem bißchen Besitz, die Ehre wieder geben.

Die Nazigarden, bis auf die erste Reihe, fanden sich bald im neuen Deutschland der Westzonen wieder zusammen - und genossen ihre dicken Pensionen, gestalteten in ihren neuen-alten Positionen der Mächtigen wieder das Leben der anderen, behielten nicht nur ihren alten Besitz, sondern auch die Kriegs- und die Arisierungsgewinne - und sprachen sich gegenseitig frei. Unsere Toten, unsere Opfer aber sind immer noch tot. Und in aller Regel nicht einmal rehabilitiert.”

2.7.00

“Profiteure des Holocaust”

Im Forum Humanwissenschaften veröffentlichte die FR am 29.6.00 diesen Beitrag von Frank Bojahr, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg.

Zum Thema wird Anfang 2001 seine Studie “Nationalsozialismus und Korruption” erscheinen. (FR)

Mein Text richtete sich an den Verfasser.