Walter Grab: "Zwei Seiten einer Medaille"

Dieses Buch habe ich mit großem Gewinn gelesen: mit Zustimmung, mit Widerspruch, mit Stirnrunzeln. Und ich habe flugs einen Bezug zur Gegenwart hergestellt - Israel, das Land der Verheißung. Und für die anderen? Walter Grab macht es sehr deutlich: die vielen Arten von Juden, die es gibt - und die nach der Lehre der den Ton Angebenden doch alle unter ein Joch gestoßen werden sollen, unabhängig vom persönlichen Wollen und Erkennen, unabhängig von der persönlichen Sozialisation: als Jude geboren (wenn die Rechtgläubigen das so definiert haben) - und dann für alle Zeit dem Volk, der Religion, der Geschichte... und den Gewohnheiten verpflichtet sein?! Auserwählt - oder verdammt für alle Zeit, ein Gefangener zu sein, der kein Recht hat, er selbst zu sein? Atheist zum Beispiel! Deutscher, Weltbürger? Oder gar nur Mensch!

Die Erkenntnisse von Arnold Zweig (dessen Vriendt in der Büchergilde Gutenberg zu erstehen ist) und Wolfgang Yourgrau im noch freien Palästina ca. 1940 haben es deutlich gemacht, um was es beim Zusammenleben von Menschen gehen muß: "Frei sei der Geist und Zwang der Glaube", frei die Religion, das Zugehörenwollen zu einem Volk, einer Rasse, einer Gemeinschaft - oder eben das Nicht-Wollen. Die negative Koalitionsfreiheit auch für Juden - steht da ein neuer Emanzipationsbedarf bevor? Die gewissermaßen weltlichen Juden in Israel fragen sich ja mittlerweile, wo denn zukünftig ihre Heimat sein soll, sein wird. Wenn sie gern als Menschen, als Humanisten leben möchten...

Die damalige Erkenntnis der beiden, das zionistische Verhalten, das ihnen 1940 in Palästina entgegenbrandete, als faschistisch zu bezeichnen, basierte ja nur auf einem schmalen Ausschnitt dogmatischen Gestaltungswillens der damals nur "moralisch" Mächtigen - wie sehr würde sich Arnold Zweig heute bestätigt sehen: die herrschenden Juden in Israel, die allenfalls von vielen kleinen und jungen Davids gekitzelt werden, greifen zu den Geiselerschießungen der heutigen Zeit. Hemmungslos werden durch Panzer, Kanonen, Raketen, Flugzeuge  und freudig dienende Scharfschützen 400 Araber umgebracht - wie viele davon richtig vorsätzlich, gerne, mit Vorsatz - mit Hochmut? Und alles im Gefühl, selbst die armen Opfer zu sein, die selbstverständlich völlig im Recht sind.

Ja, man muß schon sehr selbstgerecht sein, um nach 1800-jähriger Abwesenheit sich wieder als Herren der Völker (der Region) und der Zeit zu begreifen, gefürchtet auch von den eigenen "Volksgenossen". Als wir vor ein paar Jahren in Jerusalem waren, warnte uns unser deutsch-jüdischer Reiseleiter, zu Fuß in die Wohnbezirke der Orthodoxen zu gehen - die hätten das nicht gern... Und könnten sehr handgreiflich werden. Haben wir schon damals ohne Zögern geglaubt.

Aber zurück zu den zwei Seiten einer Medaille. Ja, Walter Grab hat recht, wenn er herausarbeitet, daß es unseren jüdischen Deutschen dann gut (oder besser) ging, wenn es dem Volk als einer großen Versammlung von Bürgern, von Staatsbürgern mit demokratischen Rechten, politisch besser ging - und schlecht, wenn außer den wenigen Mächtigen niemand etwas zu sagen hatte. Daß in den Zeiten davor ausschließlich das Christentum als Religion, als intolerante Religion (welche ist das nicht - siehe oben!) die hetzende Institution war, kommt bei ihm etwas zu kurz - Nachsicht? Doch die ist nicht gerechtfertigt.

Walter Grab ist an der einen oder anderen Stelle etwas kurzsichtig - zum Nachteil deutscher "Stellen": das würde allerdings auch gut in die heutige Zeit passen, wo alle Gutmenschen und  die Unternehmer (aus recht unterschiedlichen Gründen, gewiß!) den eigenen Laden runtermachen, um alles andere umso heller scheinen zu lassen. Grab haut daneben, wenn er Schleswig und Holstein kurz und bündig zu dänischem Territorium macht, daß die bösen Preußen einfach so erobert, gestohlen, geraubt haben - und die Staatengemeinschaft hätte einfach so geschwiegen?! Tatsächlich waren die beiden Provinzen zu den deutschen Landen gehörig gewesen, Holstein war es noch (nicht zum Nationalstaat, den gab es so noch nicht), regiert vom dänischen König in Personalunion - nichts Ungewöhnliches damals. Dieser King wollte sich dann aber neben Schleswig, auf das er einen stärkeren Anspruch hatte, auch Holstein einverleiben, es in sein Königreich eingemeinden. Da hat Preußen/Bismarck in Einheit mit der K.u.K.-Monarchie schlicht nein gesagt - der King wollte nicht hören, da mußte er fühlen. Den Preußen war kein Vorwurf zu machen.

Und Grab liegt erstaunlich schief, wenn er ausgerechnet das Frankreich/Paris des Dreyfus als Beleg nimmt, Frankreich zu loben - und hervorzuheben, daß ganz im Gegensatz zu dem ruhmreichen, absolut juden- und Dreyfus-freundlichen Frankreich sich 1933 ff in Deutschland niemand fand, die Juden so erfolgreich zu verteidigen, daß die Nazis klein hätten beigeben müssen. Welch ein toller Vergleich! Ja, wenn man so weiß, daß der eigene Laden ganz schlecht ist, dann muß es anderweitig ja besser sein.- Daß er den Obersten Redl zum General macht, ist da eher eine läßliche Sünde.

Daß Grab Joseph Bloch ohne die leiseste Relativierung zitiert, wenn dieser sagt, daß der "Antisemitismus seiner Meinung nach tief ins heidnische  Altertum zurückreichte", dann ist das doch arg wunderlich. Ohne Christentum hätte es keinen Antisemitismus gegeben - und daß die Juden bei den Mohammedanern wie im fernen Osten der alten Zeit respektvoll behandelt wurden, ist eine Tatsache. Antisemitismus ein heidnisches Relikt also? Dann werden Christen- und Judentum wohl Brüder und Schwestern im Geiste der Solidarität und der Toleranz sein.

Erstaunlich für mich, was Grab über den Selbsthaß der (nur deutschen?) Juden zu berichten weiß. Ich glaube schon, daß eine gewisse Anzahl von Juden hin und her gerissen waren zwischen dem Zwang, Jude sein und sich dazu bekennen zu müssen - und dem Wunsch, einfach nur Mensch sein zu wollen, Individuum, das ein Recht darauf hat, in Ruhe gelassen zu werden. Viel schlimmer und ausgeprägter scheint mir zu sein, daß so mancher Jude von seinen Volksgenossen mit seinem "Fehlverhalten" moralisch-schmerzhaft konfrontiert worden ist, ins Unrecht gestellt wurde, moralisch herabgewürdigt wurde - das alles lief dann unter sogenanntem "Selbsthaß": ein Trauerspiel, das aus dem Zwang, aus dem Willen zur Unterjochung Andersgläubiger, Andersdenkender resultiert.

Und warum das Ganze? Warum dieser unheimliche Druck auf Menschen jüdischer Abstammung aus dem Judentum selbst heraus? Warum können Menschen jüdischer Abstammung nicht mit Stolz-Freude-Genugtuung-Dankbarkeit an ihre jüdischen Ahnen denken - und ihr Leben im "Hier und Jetzt" einrichten? Wohin immer sie das Leben im Laufe der Jahrhunderte gebracht hat? Haben Menschen jüdischer Abstammung dazu kein Recht? Wer verurteilt Menschen jüdischer Abstammung immer wieder auf's Neue, diesen alten Sack von Beschwernissen-Schuld-Verpflichtung zu tragen - koste es was es wolle? Wer maßt sich dieses Recht an? Der Allein-Seelig-machende? Der, der das/sein Volk auserwählt hat? Oder seine Jünger?

Was zwingt Menschen, intelligente, tüchtige Menschen, die stolz sein können auf ihre - auch kollektiven - Leistungen, dazu, sich immer wieder unter die Knute zu begeben, die Knute der Vergangenheit? Tragen die Juden von heute, die, die bewußt Juden sein wollen, eigentlich immer noch an den Ereignissen, der Flucht nach dem gescheiterten zweiten jüdischen Aufstand, wo ihre Ahnen bekanntlich nicht gegen das römische Reich gesiegt haben? Was ja keine Schande war! Tragen sie daran, daß die Ahnen sich nicht einfach haben unterjochen lassen - was ja bekanntlich immer und überall nur für eine gewisse Zeit galt? Dann wären andere Zeiten... und andere Unterdrückungen gekommen - das Leben der kleinen Leute war immer so. Oder kranken die Juden der späteren Zeiten immer noch daran, daß ihre Ahnen die römischen Weltherren nicht zum Judentum bekehren konnten (s. Kublai Khan!)?

Oder mit ganz anderen Worten: hätten die Juden im Jahr 134 bis zum Untergang oder bis zur Versklavung gekämpft, wäre den Überlebenden, die es immer und überall gegeben hat, eine Menge erspart geblieben - vor allem den überlebenden jüdischen Menschen in aller Welt, in die sie dann hätten ausreisen können: auf Dauer oder auf Zeit. Ganz wie es ihnen beliebt hätte. Allerdings, wenn auf Dauer, dann ohne den Rucksack, ohne die daraus resultierenden Verpflichtungen zur ewigen eigenen geistigen Sklaverei... sie hätten eben überall in der Welt neue Leben anfangen können.

Oder kurz und bündig: ist das alles nicht Ergebnis einer gottverdammten Religion, die die Menschen (aufgrund ihrer Intelligenz oder aufgrund ihrer Verdammnis?) in die ewige Abhängigkeit geführt hat, in das ewige Schuldgefühl, in die ewige Demut dem Einen gegenüber, der nicht mal einen Namen haben darf?

Zurück zu unserem Land, unserer Vergangenheit, zu Walter Grab. Kurt Tucholsky, der von allen zu recht so hoch Geschätzte und Verehrte, unser gemeinsamer deutscher und jüdisch-deutscher Freund und Kampfgenosse vieler Vorkämpfer für die gute Sache, unser Vorbild, mußte seinen engstirnigen “Volks-”Genossen als Sparrings-Opfer dienen, mußte sich ihrer Dummheit und Arroganz erwehren - zu einer Zeit, in der Deutschland schon auf dem Weg in den Untergang war! Schrecklich.

Das Übel sind die Religionen - mit all ihren Denkzwängen. Das ist es, das bringt es auf den Punkt. Die Religionen der Welt haben den Menschen nur Unglück, Not und Leid gebracht.

Zurück zum Buch, zum Buch von Walter Grab. Wunderbar fand ich, wie eingehend Grab den rasenden Reporter noch einmal hat lebendig werden lassen - und ich habe bei ihm wie bei all den anderen leuchtenden Persönlichkeiten deutsch-jüdischer Verfassung (ja, das geht zusammen, das gehört zusammen, vor allem wenn das Sozialistische, das Demokratische das geistige Bindeglied ist, das alle Schranken aufhebt oder zumindest ganz klein macht) so schmerzlich empfunden, wie leer unsere Zeit heute geworden ist: kaum herausragende Persönlichkeiten, keine Kämpfer für eine Sache, keine zielorientierten Strategen, die Fernziele klar erkennen und formulieren können - und die Wege, sie zu erreichen.

Ich habe für mich verinnerlicht, was Arnold Zweig am 20. Februar 1943 an Lion Feuchtwanger schrieb, und womit Grab sein hervorragendes Buch enden läßt: "Ich bin hierher gegangen, weil ich nicht heimlich Wein trinken wollte, nachdem ich öffentlich 25 Jahre Wasser gepredigt hatte. Gut und schön, aber ich hätte schneller lernen können, daß ich nicht zu den Leuten gleicher Abstammung passe, sondern zu denen gleicher Gesinnung."

"Hoch - die - internationale - Solidarität." Das ist weitaus besser als alle aus der Nation oder Religion stammenden Bindungen. Der Kopf ist zum Denken da - nicht, um ihn zu beugen. Und dabei den Füßen der Mächtigen näher zu kommen - auch wenn es manchmal mit dem Fußwaschen verlogene Züge annimmt.
28.4.2001