Hans-Herbert von Arnim: Vom schönen Schein der Demokratie

Der Autor ist wohlbekannt - und streitbar. Wer wollte das bezweifeln. Er hat sich Verdienste errungen, da er mit dem Versagen der politischen Klasse hart umgesprungen ist. Doch mit diesem Werk schießt er weit über das Ziel hinaus.

Seine Kritik ist mittlerweile ausgesprochen destruktiv und geeignet, den geneigten Leser in dessen Erkenntnis, “die da oben sind alle Versager/Selbstbediener/Anpassungsartisten und dumm”, rückhaltlos zu bestärken. An die Stelle der herrschenden politischen Klasse - der gewählten Politiker, weiter sieht er nicht - setzt er “das Volk” in all seinem Glanz, schreibt ihm vermeintlich grenzenlose Größe, Weisheit und Selbstlosigkeit zu. Sein Credo: “das Volk” muß entscheiden, muß direkt wählen: das ist die Lösung aller Probleme.

So begrüßt er selbstverständlich rückhaltlos die Direktwahlen der Oberbürgermeister, Bürgermeister und Landräte; beklagt lediglich, daß diese nicht viel weiter reichende Gestaltungsrechte in der Kommunalpolitik erhalten haben. Seine vehement vertretene Vorstellung: dann wären die Gewählten weitgehend frei von den Kommunalparlamenten, von Fraktionen, vor allem von ihren eigenen Fraktionen - und könnten endlich volksnahe, ausschließlich gemeinnützige Politiken betreiben, ohne langanhaltende Beratungen durch Gremien, ohne Interessenabwägungen, die nach seiner Auffassung stets einzelinteressenorientiert sind. Leuchtende Augen bei von Arnim: dem Volk sind die Köpfe der Kommunalpolitik dank Direktwahl damit unmittelbar rechenschaftspflichtig - allerdings nur am Ende der Wahlperioden. Ich vermute mal, daß der Königl. Preußische Landrat von anno dunnemals eine ähnlich unabhängige, zur Selbstherrlichkeit verführende Rechtsposition gehabt hat.

Klar, daß von Arnim das neue Kumulieren und Panaschieren in der Kommunalwahl auch für Hessen und Rheinland-Pfalz wärmstens begrüßt. Kritik- oder auch nur Schwachpunkte vermag er dabei keine zu erkennen. Daß die allermeisten Wählerinnen und Wähler die zahllosen Kandidaten (und -innen) in Ortsbezirk, Stadt und Kreistag auch nicht ansatzweise kennen, auch gar nicht kennen können, ist für ihn nicht der Erwähnung wert. Das Prinzip, das große, ist das Entscheidende. Daß bekannte Lokalgrößen oder lautstarke Maulhelden damit zwangsläufig im Vorteil sind, ob die zahlreichen stillen Schaffer und Organisierer der Fraktionen unter “ferner liefen” auch eine (faire?) Chance haben: kein Thema.

Politisch gemeingefährlich wird der Autor, wenn er als großen Wurf die Direktwahl der Ministerpräsidenten verlangt, wobei nach seinem politischen Kinderglauben selbstverständlich auch die Landesparlamente durch Kumulieren und Panaschieren zu neuer volks-demokratischer Größe auflaufen. Die Landesparlamente sind ihm ein Dorn im Auge: sie haben nach seiner - sicher nicht ganz unbegründeten - Auffassung politisch nicht mehr viel zu sagen, handeln aber nahezu regelmäßig eigennützig (persönlich oder für ihre Gruppe oder Partei), entscheiden langatmig, haben komplizierte Entscheidungswege... und treffen dann unzureichende oder falsche Entscheidungen.

Staatsrechtler von Arnim löst alle Probleme der Landespolitik durch präsidiale Ministerpräsidenten (vermutlich à la Hindenburg), die autoritär regieren. Sie dürfen - und müssen - das, weil sie nicht nur vom Volk direkt gewählt sind, sondern endlich auch unabhängig von den Landesparlamentariern agieren können. Sein besonderes Anliegen ist, daß der so direkt gewählte Ministerpräsident vor allem von seiner eigenen Partei und Fraktion weitgehend unabhängig ist - oder aber ihr gar, da direkt vom Volk gewählt, die richtigen politischen Auffassungen wie Personalentscheidungen diktieren kann.
Die durchgängige Linie des Autors, garantiert lebensfremd und nicht sonderlich in die parlamentarische Demokratie passend, zeigt, wohin der wohlmeinende Mensch in seiner Verzweiflung stürzen kann...: ins realpolitische Abseits.

Es sei mir aber ein weiter gehendes, persönliches Fazit gestattet: von Arnim, der wortgewaltige Kritiker, bestätigt die Leser in ihrer zweifelnden (und verzweifelnden) Haltung zu den Politikern, zu den Parteien, zum Staat. Und letztlich auch zur Demokratie. Diese Menschen werden darin bestärkt, den Staat abzulehnen, Populistisches aber zu goutieren. Ein Staat - und ein demokratisches Staatsverständnis - ohne seine Bürger als selbstbewußtes und tragendes Element wird im Nu zum Instrument der wahrhaft Herrschenden. Daran verschwendet von Arnim allerdings keinen Gedanken, auch nicht an die schon entsetzlich geringen Wahlbeteiligungsquoten bei all diesen Direktwahlen auf der kommunalpolitischen Ebene in Hessen. Von den USA lernen, die er gern als Vorbild rühmt? Weniger als 50% der Amerikaner beteiligen sich an der Wahl des Präsidenten, der mächtigsten Ein-Mann-Institution der Welt. Arme, Schwarze, Ungebildete, Hispanics, Frauen: die Reservoirs der Nichtwähler sind groß. Wir aber wollen kein Abbild der USA werden. Europa ist mehr wert. In den europäischen Traditionen liegt unsere - gemeinsame - kulturelle und politsche Zukunft.

“Politik ohne Verantwortung”, wie es im Klappentext heißt? Nein, das ist Opportunismus ohne Verantwortung. Ein Jammer.
3.7.2000